Die Schuhe der Massai

Die Massai kennt man bei uns vor allem als folkloristische Fotomotive in ihren roten Gewändern, der traditionellen Masai Shuka, die mit Speer und Schild Spring-Tänze aufführen und sich vom Blut und von der Milch ihrer Kühe ernähren. Schon zu meiner Schulzeit habe ich erfahren, dass sie Vielehe betreiben und dass junge Mädchen schon als Kind verheiratet werden. Und dass ihre Mädchen und Jungen beschnitten werden. Selbst unter Kenianern, so habe ich gelegentlich gelesen, gelten die Massai als rückständige Analphabeten. Aber was ich bei unserem Besuch in einem Massaidorf im Tsavogebiet erfahren habe, passt so gar nicht in das Klischee, das bei uns in Europa verbreitet ist.

Isaac Koruta ist der erste Massai, den ich persönlich kennenlerne. Bei meiner Reise nach Kenia habe ich ihn im Finch Hatton Camp im Tsavo National Park getroffen. Isaac arbeitet dort als Guide und als Nachtwächter, der die Touristen zu deren Sicherheit nachts oder frühmorgens zwischen den Ferienhäusern und dem Restaurantbereich begleitet. Das Camp liegt mitten in der Wildnis und ist von keinem Zaun umgeben. Elefanten, Büffel, Hippos und andere Wildtiere haben hier jederzeit freien Durchgang. Auch die Raubkatzen.

An dritten Tag morgens, als er uns zum Frühstück abholt, erklärt er uns anhand von Spuren, dass das Löwenquartett, das wir an den beiden Tagen zuvor beobachtet haben, nur ein paar Meter entfernt von unserem Quartier die Nacht verbracht haben. Die einzige Waffe, die der Massaikrieger bei seinen Kontrollgängen mit sich führt ist eine starke Stabtaschenlampe. Damit blendet er die Tiere. „Das reicht, um sie zu vertreiben“ erklärt er uns. Und unser Jeepfahrer erklärt mir, dass die Löwen Angst vor den Massaikriegern haben.

Bei unserer ersten Begegnung hat Isaac mir erklärt, dass er ein Krieger, ein Moran ist, und dass er 2012 noch einen Löwen töten musste, um in diese Kaste aufgenommen zu werden. Sein zweiter Name „Korutu“ bedeutet, „dass er „auf der Reise geboren wurde“, womit deutlich wird, dass die Massai ein nomadisierendes Hirtenvolk sind. Inzwischen gehört Isaac Korutu zu den „Younger Elders“, worunter wohl zu verstehen ist, dass sein Wort unter den Mitgliedern seines Stammes Gewicht hat. Die Löwenjagd ist inzwischen verboten und sein Volk respektiert das. Um heute ein Krieger zu werden, müsse man sich bei der „Massai-Olympiade“ bewähren. Hier geht es um sportliche Wettkämpfe, in denen die angehenden Krieger ihr Können in selbst kreierten Disziplinen zeigen müssen.

Die Schuhe der Massai sind eine Art Metapher dafür, dass sie das Beste aus zwei Welten übernehmen. Traditionell wird das indigene Schuhwerk aus mehrlagigen Rinderhäuten gefertigt, doch die haben einen Nachteil. In der Regenzeit weichen die dicken Sohlen der Sandalen auf und machen es den harten und spitzen Akaziennadeln leicht, sie zu durchstoßen. Gummisohlen aus alten Motorradreifen sind da wesentlich sicherer, wenn man sich diese improvisierten Sohlen mit Gummibändern aus alten Fahrradschläuchen an den Füßen befestigt.

Im Dorf der Massai entdecke ich noch die eine oder andere „zivilisatorische Errungenschaft“ . Das Hausdach, traditionell aus Graslagen, und Lagen aus einer Mischung von Kuhdung und Lehm gefertigt, ist mit einer Plastikplane wohl gegen den ersten Regen geschützt, wenn er nach der Trockenzeit einbricht und in die breiten Trockenrisse noch nicht wieder aufgequollen sind. Und wenn man den Touristen, die das Dorf besuchen, den kunstvollen Massaischmuck verkauft, dann lässt man sich nicht mit Bargeld bezahlen, sondern zieht unter dem Umhang ein Smartphone heraus, auf dem die Mpesa-App installiert ist. Diese Art des bargeldlosen Zahlungsverkehrs von Mobilphone zu Mobilphone ist in ganz Ost- und Südafrika inzwischen üblich, auch in den Savannen und Trockenwüsten des Rift Valley. Streichhölzer erleichtern das Feuermachen und Geschirr und Dosen haben

Isaac hat mich in das Haus seiner Schwester eingeladen. Man muss sich tief bücken, um durch den engen Zugang zu schlüpfen in einen Flur, der zuerst einmal den Besucher zwingt, nach etwa anderthalb Metern in einem engen Bogen eine 180° Wendung zu machen, bevor man den eigentlichen Wohnbereich betritt. Rechts und links des Zuganges befinden sich kleinere nischenartige Räume, die als Vorratsräume oder als Unterschlupf für die Ziegen genutzt werden. Die Innenarchitektur der Massaihütte ist ein klug ausgedachter Schutz vor beutesuchenden Löwen, die in der stabilen Hütte aus Lehm, Dung und dicken Ästen sprichwörtlich schon die erste Kurve nicht kriegen. Geschlafen wird auf einem erhöhten Podest aus Zweigen, das mit Kuhhäuten abgedeckt ist. Die Kinder schlafen getrennt von den Eltern. Beide Schlafstätten dienen tagsüber als Sitzgelegenheit. Nur eine etwa 5 Zentimeter große Öffnung in der Lehmwand spendet im Innern der Hütte Licht und Luft. Der Qualm der Feuerstätte verzieht sich unter dem Dach der Hütte. Mit dem Verbrennen von Elefantendung schützt man sich vor Mücken.

Die Hütten der Massai werden von der Dorfgemeinschaft errichtet, und man braucht für deren Fertigstellung etwa 5 Tage. Der „enkang“, wie die Siedlung einer Massaifamilie genannt wird, ist mit zusammengetragenen und ineinander verhakten Akazienästen eingefriedet, die gefährlicher sind als aufgerollter Natodraht oder die Stacheldrahtverhaue um militärische Anlagen. Diese Maßnahme dient auch dem Schutz gegen überraschende Besuche von Elefantenherden. Auch die Herden werden nachts in diesen Schutzbereich getrieben.

Bei unserem Besuch gibt es im Dorf nur ein paar alte Männer und Frauen. Die Kinder sind in der Schule und die Männer sind mit ihren Herden unterwegs. Viele der Frauen sind mit der Herstellung des prachtvollen, bunten Perlenschmucks der Massai beschäftigt, der hauptsächlich an die Touristen verkauft wird. Traditionell wurden bei der Herstellung des Schmucks bevorzugt natürliche Materialien wie Muscheln, Elfenbein und Tonperlen verwendet. Heute sind es in der Regel kleine Glasperlen, die man sich auf dem nächsten Markt beschafft. Eione der Frauen bessert ihr Hütten mit einem Gemisch aus Lehm und Kuhdung aus, das mit bloßen Händen aufgetragen und geglättet wird. Neben den Arbeiten am Haus ist es traditionell Frauenarbeit, Feuerholz zu sammeln, Wasser herbeizuschaffen, die Kühe zu melken und das Essen zuzubereiten.

Neben Ziegen sind es vor allem die Rinder, um die sich die Kultur der Massai dreht. Isaac erklärt uns, dass die Tiere ihnen alles zu ihrem Leben Notwendige liefern.

Ich kann es mir nicht verkneifen, auch nach den kritischen Themen wie Geschlechtsverstümmelung, Polygamie und Kinderehen zu fragen, und erhalte überraschende Antworten. Geschlechtsverstümmelung sei gesetzlich verboten und schwer bestraft, und das werde von seinem Volk respektiert. Kinderehen und Polygamie seien auf dem Rückzug. Es sei für einen jungen Mann schwer, gegen die Stammestradition anzugehen, wonach der Vater eine Frau für seinen Sohn aussucht, wenn er selbst keine Initiative ergreift. Es sei akzeptiert, wenn man als junger Mann sich in ein Mädchen verliebe und das dann trotz einer zuvor vermittelten Heirat heirate. Aber die Kinderheirat sei inzwischen in seinem Stamm eher eine Ausnahme.

Ich glaube, dass Isaac zu den Massai gehört, die einerseits in einer Tradition aufgewachsen sind, die sie aktiv pflegen und leben. Andererseits gibt sein Facebookprofil zu erkennen, dass seine Generation das Beste aus zwei Welten sucht. Es zeigt ihn in modernem Outfit mit Basecap und weist ihn als Fußballfan aus und als Freund der Reggae Music.

Nach einer kurzen Visite des von einer NGO geschenkten Bienenstandes, der keine Bienen mehr hatte, – eins der vielen Waste-Money-Projekte- hat Isaac uns dann zu einem Besuch der LOONKIITOK PRIMARY SCHOOL und des Iltilal Health Dispensary eingeladen.

Ein Kommentar Gib deinen ab

  1. Tradition und Moderne. Es ist immer interessant, wie junge Menschen anderswo versuchen, das zu vereinbaren. Ich habe seit einem Jahr Kontakt zu einer paschtunischen Familie in Kabul. Eine völlig andere Weltgegend, aber auch da sieht man, mit welchem Elan junge Menschen versuchen, das beste aus zwei Welten miteinander zu vereinbaren. (Die Taliban allerdings machen ihnen da den einen oder anderen Strich durch die Rechnung.)

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