Bukusu

Ich bin ein Bukusu. Seit meiner Reise nach Bungoma weiß ich erst, dass ich Mitglied dieses Unterstamms der Luhya bin. Durch die Heirat meiner Tochter mit Kiko bin ich zum Bruder von Simeon Masinde, Kikos Vater, geworden. Simeon war in Bungoma County Kanzler der Regionalregierung, hatte also eine hohe Position in der Selbstverwaltung der Luhya. Traditionell schuldet Simeon mir noch den Heiratspreis für meine Tochter. Simeon ist einer der Menschen, die sowohl die Tradition als auch das moderne Kenia kennen, und wir machen Scherze darüber, wie viele Rinder und Schafe er mir schuldet und wie ich den Brautpreis nach Deutschland transportieren könnte. Er ist als einer der Elders, der Ältesten, ein politisch einflussreicher Mann. Bungoma County ist das, was man in Amerika einen Swingstate nennen würde. Hier werden nationale Wahlen entschieden und von der Wahlempfehlung der Elders hängt viel ab.

Auch Kikos Mutter Grace ist Mitglied einer fast noch einflussreicheren Familie. Zwei ihrer Brüder in direkter Linie kennt man in ganz Kenia. Chris Mhimba, von Beruf Lehrer wie ich und ehemaliger Bildungsminister in Bungoma County, ist der Besitzer der Novaschulen in Südafrika und Kenia. Mit seinem kleinen Privatschul-Imperium und seinem geschäftlichen und politischen Netzwerk besitzt er eine Menge Einfluss in Kenia. Wir haben ihn bereits in Kitale und in Kimilili kennengelernt. Er hat nach einer Beerdigung im Familienkreis auf unsere Einladung hin in unserem Ferienhaus übernachtet. Wir haben uns sehr gut verstanden, viel gelacht und wir sind Freunde geworden.  Ich bin im Verständnis der Kenianer sein Schwager. Der andere Onkel ist Moses Wetangula, der Sprecher des Kenianischen Parlaments in Nairobi. Er ist nach dem Präsidenten der zweithöchste Politiker Kenias. Wir waren zum Abendessen bei ihm eingeladen, aber sein Büro hat das irgendwie vermasselt. Einen späteren Termin konnte ich wegen meines Rückflugs nicht wahrnehmen. Kiko wird noch für eine weitere Woche bleiben und hat eine neue Einladung seines Onkels bekommen.

Was es heißt, ein Bukuso zu sein, habe ich auf meiner Reise einige Male  erfahren. In der Provinzstadt Kitale habe ich zusammen mit  Kikos Bruder Joseph einen Friseurladen aufgesucht. Im “Sleek Hair Salon” bin ich vermutlich der erste Weiße, der das Ladenlokal betreten hat. Nach einer kurzen Vorstellung:  “Ich besuche die Familie meines Schwiegersohns in Kamakuywa” werde ich von Moreen Juma und Mercy Walukela auf’s Herzlichste begrüßt. Sie nennen mich plötzlich „Vater“ und klären mich auf, dass sie meine Töchter seien, da ich ja jetzt auch vom Stamm der Bukusu bin. Alle Männer meiner Generation sind ihre Väter. In der Stammeshierarchie der Bukuso gehöre ich der Altersgruppe der Banyange an. Mit diesem Namen werden diejenigen bezeichnet, die zwischen  1948 und 1958 geboren sind. Aktuell gehöre ich also ehrenhalber zu den Stammesältesten. Man will mich nicht gehen lassen ohne das obligatorische “Familienfoto”.

Ein paar Tage später am Flughafen in Eldoret klärt sich das strenge Gesicht des Security Mitarbeiters bei dem Zauberwort “Bukusu” auf. Bukusu erkennen sich gegenseitig an ihrem Akzent und wenn ich von Kiko als Familienmitglied vorgestellt werde , trägt man sogar meinen Rucksack zum Ticketschalter oder man bedient mich in einem Restaurant in Mombasa mit ganz besonderem Vorzug. Bukusu sind über das ganze Land verteilt. Man trifft sie in Nairobi und auch in Mombasa an der Küste.

Einen junger Soldaten mit diensternster Mine und Schnellfeuergewehr am Eingang zum Nairobi Nationalpark zeigt beim Stichwort “Bukuso” auf einmal sein strahlendstes Lachen, hängt seine Waffe über seine Schulter und schüttelt lange meine Hand und wechselt zum freundlichen Smalltalk.  Es ist, als sei die Sonne plötzlich hinter den dunklen Wolken seiner grimmig ernsten Miene aufgetaucht.

Bukusu erkennen sich und halten zusammen. In Nairobi sind wir die Gäste von Kikos Onkel Chris. Er hat uns zum in Lunch eingeladen. Er kommt mit seinem ältesten Sohn, John. In einem nahen Restaurant stößt der Direktor der Kenianischen Nationalparks, zu uns. Eigentlich hätte er uns in den Nairobi National Park führen sollen, aber der ist leider heute geschlossen. Er isst mit uns zu Mittag. Dann werden wir dem Staatssekretär im Kenianischen Wirtschaftsministerium vorgestellt, der am Nachbartisch Platz nimmt. Ich selbst kann mich nur wundern, wie herzlich mein Schwiegersohn und ich überall begrüßt werden, wo wir auftauchen. Bukusu macht’s möglich.

Wir Europäer nennen diese Art von Stammesdenken, das bis zu den politischen Amtsträgern in Kenia wirkt, „Tribalismus“. Die jeweilige Stammeszugehörigkeit ist den Menschen wichtiger als ihre nationale Identität. Innerhalb der jeweiligen Gruppen fördern und protegieren die Mitglieder sich gegenseitig. Das Hemd des Stammes ist den Kenianern näher als der Rock des Nationalstaates.

Tribalismus findet sich in ganz Afrika. Für einen nationalen Zusammenhalt ist Tribalismus nicht nur in Kenia hinderlich. Die Wurzeln des Problems liegen in der Aufteilung Afrikas im 19. Jahrhundert. Die von den europäischen Kolonialmächten gezogenen Landesgrenzen nahmen keine Rücksicht auf die traditionellen Einheiten. Die Länder Afrikas haben diese alte koloniale Einteilung in Nationalstaaten nach der Entkolonialisierung beibehalten, und nicht nur in der noch jungen Geschichte Kenias kam es immer wieder zu zum Teil gewaltsamen Konflikten zwischen den traditionellen Ethnien. Jede der 42 Volksgruppen spricht neben den Amtssprachen Englisch und Kisuaheli ein eigenes Idiom, lebt nach eigenen Traditionen – und kämpft für die eigenen Interessen. Der Tribalismus spaltet bis heute das ostafrikanische Land. Die aktuelle Politik der Devolution versucht die Spannungen zwischen den Stämmen aufzulösen, indem man den einzelnen Counties mehr politische Selbstverwaltung zugesteht.  

Die junge Generation versucht, diesen alten Tribalismus zu überwinden, wie ich aus vielen Gesprächen mit den jungen Menschen, denen ich auf meiner Reise begegne, heraushöre. Vor allem in den Städten Nairobi und Mombassa kommen die jungen Leute an Universitäten, in internationalen Schulen und bei ihren Jobs zusammen und entwickeln ein modernes Verständnis von nationaler Identität. Für diese Generation zwischen Tradition und Moderne verliert das überlieferte Stammesdenken mit seinen starken patriarchalischen Strukturen zunehmend an Bedeutung.

rbt

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