Kolonialismus

Die Fabel vom Land, dem Elefanten und dem Menschen

In Vorbereitung auf meine Reise bin ich gestern auf das wunderbare Buch “Facing Mount Kenya” gestoßen. Der Autor ist kein geringerer als der kenianische Widerstandskämpfer und Staatsgründer Jomo Kenyatta (* 20. Oktober 1893; † 22. August 1978) , der , erstmals 1938 eine anthropologische Studie zu seinem Stamm, den Gikuyu, veröffentlicht hat.

Das Besondere an seinem Werk ist, dass er sich als einer der ersten Afrikaner der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts daran machte, das reiche kulturelle Erbe seines Stammes aufzuschreiben. Damit eröffnet sich auch für uns Europäer ein Einblick in das Fühlen und Denken einer kenianischen Stammeskultur, in der Wissen – anders als bei uns – mündlich von Generation zu Generation weitergegeben wird.

In seinem Buch setzt er sich auch mit der Beziehung der Kenianer zu ihren europäischen Kolonialherren und deren Methoden der Landnahme in Ostafrika auseinander. Das tut er nicht in Form einer sachlichen Analyse sondern er erzählt eine Fabel, in der die Beziehung zwischen den Gikuyu, seinem Volksstamm, und den Europäern unterhaltsam veranschaulicht wird: 

”Es war einmal ein Elefant, der mit einem Mann Freundschaft schloss. Eines Tages brach ein schweres Gewitter los, der Elefant ging zu seinem Freund, der eine kleine Hütte am Waldrand hatte, und sagte zu ihm: „Mein lieber, guter Mann, würdest du mir bitte erlauben, meinen Rüssel in deine Hütte zu stecken, damit er vor dem heftigen Regen geschützt ist?“ Der Mann, der sah, in welcher Lage sich sein Freund befand, antwortete ihm: „Mein lieber, guter Elefant, meine Hütte ist sehr klein, aber es ist Platz für deinen Rüssel und mich. Bitte lege deinen Rüssel vorsichtig hinein.“ Der Elefant bedankte sich bei seinem Freund und sagte: „Du hast mir etwas Gutes getan, und eines Tages werde ich deine Freundlichkeit erwidern.“

Doch was folgte? Sobald der Elefant seinen Rüssel in die Hütte gesteckt hatte, schob er langsam seinen Kopf hinein und beförderte den Mann schließlich in den Regen hinaus, legte sich dann bequem in der Hütte seines Freundes nieder und sagte: „Mein lieber guter Freund, deine Haut ist robuster als meine, und da es nicht genug Platz für uns beide gibt, kannst du es dir leisten, im Regen zu bleiben, während ich meine zarte Haut vor dem Hagelsturm schütze.“

Der Mann, der sah, was sein Freund ihm angetan hatte, fing an zu schimpfen, die Tiere im nahen Wald hörten den Lärm und kamen, um zu sehen, was los war. Alle standen herum und hörten den heftigen Streit zwischen dem Mann und seinem Freund, dem Elefanten. In diesem Tumult kam der Löwe brüllend daher und sagte mit lauter Stimme: „Wisst Ihr nicht alle, dass ich der König des Dschungels bin! Wie kann es jemand wagen, den Frieden in meinem Reich zu stören?“

Als er dies hörte, antwortete der Elefant, der einer der hohen Minister im Dschungelreich war, mit beschwichtigender Stimme und sagte: „Mein Herr, in Ihrem Reich gibt es keine Störung des Friedens. Ich hatte nur eine kleine Diskussion mit meinem Freund hier über den Besitz dieser kleinen Hütte, die Eure Lordschaft mich bewohnen sieht.“ Der Löwe, der „Frieden und Ruhe“ in seinem Reich haben wollte, antwortete mit erlauchtem Ton, und sagte: „Ich befehle meinen Ministern, eine Untersuchungskommission zu ernennen, die diese Angelegenheit gründlich untersucht und mir Bericht erstattet.“ 

Dann wandte er sich an den Mann und sagte: „Du hast gut daran getan, Freundschaft mit meinem Volk zu schließen, besonders mit dem Elefanten, der einer meiner ehrenwerten Staatsminister ist. Murre nicht mehr, deine Hütte ist dir nicht verloren gegangen. Warte bis zur Sitzung meiner königlichen Kommission, und dort wirst du reichlich Gelegenheit haben, deinen Fall darzulegen. Ich bin sicher, dass du mit den Ergebnissen der Kommission zufrieden sein wirst.“ 

Der Mann war sehr erfreut über diese freundlichen Worte des Königs des Dschungels und wartete sorglos auf seine Gelegenheit, in dem Glauben, dass ihm die Hütte natürlich zurückgegeben werden würde.

Der Elefant gehorchte dem Befehl seines Herrn und machte sich mit anderen Ministern daran, die Untersuchungskommission einzusetzen. 

Mitglieder wurden: (1) Herr Rhinozeros; (2) Herr Büffel; (3) Herr Alligator; (4) der ehrenwerte Herr Fuchs als Vorsitzender und (5) Herr Leopard als Sekretär der Kommission. Als er das Gremium sah, protestierte der Mann und fragte, ob es nicht notwendig sei, ein Kommissionsmitglied von seiner Seite in dieses Committee aufzunehmen.

Zur Antwort bekam er, dass dies unmöglich sei, da niemand aus seiner Gruppe gebildet genug sei, um die Kompliziertheit des Dschungelgesetzes zu verstehen. Außerdem habe er nichts zu befürchten, denn die Mitglieder der Kommission seien allesamt Männer, die für ihre richterliche Unparteilichkeit bekannt seien, und da es sich um von Gott auserwählte Herren handele, die sich um die Interessen der mit Zähnen und Klauen weniger gut ausgestatteten Rassen kümmerten, könne er sicher sein, dass sie die Angelegenheit mit größter Sorgfalt untersuchen und unparteiisch berichten würden.

Die Kommission trat zur Beweisaufnahme zusammen. Der ehrenwerte Herr Elefant wurde als erster aufgerufen. Er kam mit einer überheblichen Miene daher, bürstete seine Stoßzähne mit einem Bäumchen, das Frau Elefant zur Verfügung gestellt hatte, und sagte mit autoritärer Stimme: „Meine Herren aus dem Dschungel, es ist nicht nötig, dass ich Ihre wertvolle Zeit mit einer Geschichte verschwende, die Sie sicher alle kennen. Ich habe es immer als meine Pflicht angesehen, die Interessen meiner Freunde zu schützen, und das scheint die Ursache für das Missverständnis zwischen mir und meinem Freund hier gewesen zu sein. Er hatte mich gebeten, seine Hütte davor zu bewahren, von einem Wirbelsturm weggefegt zu werden. Da der Orkan durch den unbesetzten Raum in der Hütte eindringen konnte, hielt ich es im eigenen Interesse meines Freundes für notwendig, den unbesetzten Raum einer günstigeren Verwendung zuzuführen, indem ich mich selbst hineinsetzte; eine Pflicht, die jeder von Ihnen unter ähnlichen Umständen zweifellos mit gleicher Bereitschaft erfüllt hätte.“

Nachdem die Kommission die stichhaltigen Beweise des ehrenwerten Herrn Elefanten gehört hatte, rief sie Herrn Hyäne und andere Älteste des Dschungels auf, die alle die Aussage von Herrn Elefant unterstützten. Anschließend riefen sie den Mann auf, der begann, seinen eigenen Bericht über den Streit zu geben. Aber die Kommission unterbrach ihn mit den Worten: „Mein guter Mann, bitte beschränken Sie sich auf auf die relevanten Fragen. Wir haben den Sachverhalt bereits aus verschiedenen unparteiischen Quellen erfahren; wir möchten von Ihnen nur wissen, ob der unbebaute Platz in Ihrer Hütte von jemand anderem bewohnt war, bevor Herr Elefant seine Stelle antrat.

Der Mann begann zu sprechen: „Nein, aber …“ Doch an diesem Punkt erklärte die Kommission, dass sie genügend Beweise von beiden Seiten gehört habe und zog sich zur Beratung ihrer Entscheidung zurück. Nachdem sie ein köstliches Essen auf Kosten des Herrn Elefanten genossen hatten, fällten sie ihr Urteil, ließen den Mann rufen und erklärten Folgendes:

„Unserer Meinung nach ist dieser Streit durch ein bedauerliches Missverständnis entstanden, das auf die Rückständigkeit Ihrer Ideen zurückzuführen ist. Wir sind der Meinung, dass Herr Elefant seine heilige Pflicht erfüllt hat, Ihre Interessen zu schützen. Da es eindeutig zu Ihrem Vorteil ist, dass der Raum so wirtschaftlich wie möglich genutzt wird, und da Sie selbst noch nicht das Stadium der Entwicklung erreicht haben, das es Ihnen ermöglichen würde, ihn auszufüllen, halten wir es für notwendig, einen Kompromiss zu finden, der beiden Parteien gerecht wird. Herr Elefant soll weiterhin in Ihrer Hütte wohnen, aber wir geben Ihnen die Erlaubnis, sich einen Platz zu suchen, an dem Sie eine andere Hütte bauen können, die Ihren Bedürfnissen besser entspricht, und wir werden dafür sorgen, dass Sie gut geschützt sind.“

Der Mann, der keine andere Wahl hatte und befürchtete, dass seine Weigerung ihn den Zähnen und Klauen der Kommissionsmitglieder aussetzen könnte, tat, was sie vorschlugen. Aber kaum hatte er eine weitere Hütte gebaut, stürmte Herr Rhinozeros mit gesenktem Horn herein und befahl dem Mann, die Hütte zu verlassen. Eine königliche Kommission wurde erneut eingesetzt, um die Angelegenheit zu untersuchen, und das gleiche Ergebnis wurde erzielt. Dieses Verfahren wurde wiederholt, bis Herr Büffel, Herr Leopard, Herr Hyäne und die anderen alle in neuen Hütten untergebracht waren. 

Daraufhin beschloss der Mann, dass er eine wirksame Methode zu seinem Schutz anwenden müsse, da die Untersuchungskommissionen ihm nichts zu bringen schienen. Er setzte sich hin und sagte: „Ng‘ enda thi ndeagaga motegi“, was wörtlich bedeutet: „Es gibt nichts, was auf die Erde tritt, das nicht in die Falle gelockt werden kann“, oder mit anderen Worten: „Man kann die Menschen eine Zeit lang täuschen, aber nicht für immer”.

Eines frühen Morgens, als die Hütten, die die Herren des Dschungels bereits besetzten, zu zerfallen begannen, ging er hinaus und baute eine größere und bessere Hütte in einiger Entfernung. Kaum hatte Herr Rhinozeros sie gesehen kam er hereingestürmt, um festzustellen, dass Herr Elefant bereits drinnen war und fest schlief. Als nächstes kam Herr Leopard zum Fenster hinein, Herr Löwe, Herr Fuchs und Herr Büffel traten durch die Tür ein, während Herr Hyäne heulend einen Platz im Schatten suchte und Herr Alligator sich auf dem Dach sonnte. Bald begannen sie alle über ihre Rechte zu streiten, und vom Streiten gerieten sie in einen Kampf, und während sie alle miteinander in Rage gerieten, steckte der Mann die Hütte in Brand und brannte sie bis auf die Grundmauern nieder, mitsamt den Dschungellords und allem anderen. Dann ging er nach Hause und sagte: „Der Frieden ist teuer, aber er ist die Kosten wert“, und lebte glücklich bis ans Ende seiner Tage.

eigene Übersetzung aus dem Englischen

Foto: Pixabay-Lizenz; Kein Bildnachweis nötig

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